Gutachten zur Reform der Pflegeversicherung: Fast schon eine Revolution!

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RA Thorsten Siefarth - LogoAn sich berichte ich hier nur über bereits verabschiedete Gesetze für die Pflege. Und über Rechtsprechung dazu. Selten über Gesetzesvorhaben, noch weniger über Gutachten zu Gesetzesvorhaben. Nun mache ich eine Ausnahme. Am Mittwoch hat der renommierte Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang das Gutachten „Pflegewelt ohne Sektoren“ vorgestellt. Bereits sein erstes, im Mai 2017 vorgelegtes, Gutachten hatte einen enormen Einfluss auf die Reformdiskussion. Nun folgt das zweite Werk, in Auftrag gegeben von der Initiative „Pro-Pflegereform“. Kernthese: Erst mit einem radikalen Abbau der Sektoren und der bürokratischen Zuordnung der Menschen in eine ambulante oder stationäre Welt kann der Paradigmenwechsel wirklich gelingen.



Ziel beider Gutachten von Heinz Rothgang ist eine grundlegende Finanz- und Strukturreform der Pflegeversicherung. In dem aktuellen Werk macht der Gutachter konkrete Vorschläge, wie eine neue Pflegeversicherung aussehen kann. Der neue Vorschlag basiert auf zwei Schritten.

Schritt 1: Die Strukturreform – Sektorenabbau für wohnortunabhängige Leistungen

Die bisherigen Reformkonzepte beziehen sich überwiegend auf die stationäre Pflege. Dabei werden über zwei Drittel der Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt. Eine grundlegende Pflegereform soll auch diesen Menschen und ihren Angehörigen zugutekommen. Deshalb zielt das Gutachten auf eine „Pflegewelt ohne Sektoren“ ab. Es beschreibt ein System, das nach „Wohnen“ und „Pflege“ organisiert ist.

Unabhängig davon, wo jemand wohnt, soll die Pflegeversicherung Grundpflege und Betreuung übernehmen. Die Krankenkasse zahlt die Behandlungspflege und Rehabilitation. Der Versicherte muss die „Hotelkosten“ übernehmen.

Das Ziel nach Ansicht des Gutachters: Eine solche Strukturreform

  • schafft die sektorale Fragmentierung ab,
  • nimmt das Individuum in den Fokus statt der Frage nach ambulant oder stationär,
  • ermöglicht bedarfsgerechte Pflegesettings, moderne Leistungsangebote und stärkt die Zivilgesellschaft und
  • sie unterstützt Angehörige durch ein neues Pflegegeld 2.0.
Schritte 2: Die Finanzreform – Sockel-Spitze-Tausch für bezahlbare Eigenanteile

Der vom Gutachten vorgeschlagene Sockel-Spitze-Tausch würde das aktuelle System umdrehen. Er sorgt dafür, dass die Pflegekasse die Pflegekosten vollständig trägt und dem Versicherten einen fixen, begrenzten Eigenanteil berechnet.

Das Gutachten beschreibt zunächst in einem Referenzmodell die Entwicklung der steigenden Eigenanteile bis 2045 und zeigt den Handlungsbedarf. Anschließend kalkuliert es in mehreren Szenarien bis 2045, wie sich die Eigenanteile und die Versicherungsbeiträge entwickeln. Und zwar dann, wenn der Eigenanteil begrenzt wird. Und wenn verschiedene Finanzierungselemente zum Zuge kommen. Das ist beispielsweise die Verlagerung der Behandlungspflege, ein Steuerzuschuss, ein Nachteilsausgleich oder eine Pflegebürgerversicherung.

Politische Anschlussfähigkeit

In dem Gutachten werden die Finanzierungszenarien mit dem Referenzmodell verglichen. Nach Ansicht der Initiative „Pro-Pflegereform“ werden je nach politischer Ausrichtung finanzierbare Handlungsoptionen geboten: von der Pflegeversicherung mit fixem Eigenanteil über die Pflegevollversicherung bis hin zur Pflegebürgerversicherung. Aber erst die Kombination aus Finanz- und Strukturreform mache das Modell attraktiv und anschlussfähig.

Es gehe nicht nur ums Geld, sondern es solle ein neues Pflegesystem entstehen, das Pflegebedürftigen, Angehörigen und Pflegekräften zugutekomme. Es solle Dumpinglöhnen und schlechter Pflege entgegenwirken, weil sich der Wettbewerb dann an der Qualität orientiere und nicht mehr am Preis. Außerdem mache es den Pflegeberuf attraktiver, weil die Rahmenbedingungen unabhängig von den Kosten für die Betroffenen verbessert werden könnten. Und es sorge für eine bezahlbare Pflege und senke das Risiko der Altersarmut.

Quelle: Pressemitteilung der Initiative „Pro-Pflegereform“ vom 7. November 2019. Die Initiative „Pro-Pflegereform“ hat sich Ende 2016 gegründet und setzt sich aus über 120 Trägern, Organisationen und Verbänden mit insgesamt mehr als 1.000 Pflegeeinrichtungen und ambulanten Diensten zusammen.

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